DAS MÄDCHEN UND DIE TÜR
Die Uhr schluchzt leise und schnäuzt sich. Gleich werden die braunen Flügeltürchen auffliegen, und Cupido wird mit der abgeblätterten Goldauflage aus seiner Höhle schlüpfen, sich gleichmäßig hin und her bewegen und mit einem kleinen Bogen drohen. Cupido ist schon alt geworden und fängt an zu straucheln, ziert sich aber immer noch wie ein Pensionsfräulein. Der Pfeil seines Bogens ist nicht länger als ein Streichholz und dazu noch abgebrochen. Davon weiß aber der kleine kurzsichtige und abgeblätterte Götze nichts, er verneigt sich kokett, tritt zurück und verschwindet danach in seiner altmodischen Heimstätte. Die Flügel schnappen zu. Das bedeutet, es ist so gegen Mitternacht.
Das bedeutet, du kommst heute nicht.
Das bedeutet, du wirst nimmermehr kommen.
Das bedeutet überhaupt noch nichts.
Er roch nach Zigaretten und aus irgendwelchem Grunde nach Honig. Auch sein Name war irgendwie dickflüssig, duftig und altertümlich wie Honig. Ilija – eben zähflüssig und lang: I-li-ja.
Er hat große, gut geformte Hände. Ich weiß selbst nicht, warum ich bei der Musterung eines Mannes zuerst auf seine Hände schaue, als könnten sie offenbaren, ob er mich durchbringen, umsorgen und schützen kann. Dass ich mit meinen fünfundzwanzig Jahren durchgebracht, umsorgt und geschützt werden muss, weiß ich schon. Und die nach Zigaretten und Honig riechenden Hände scheinen mir fähig zu sein, alle Verben im Infinitiv in irgendwelche persönliche Form umzuleiten. Aber meine Tür ist damit nicht einverstanden.
Sie kennen sie nicht. Das ist meine Tür, nein nicht meine natürlich, sondern die meines Kleiderschrankes. Der Schrank ist alt, sieht klobig und sargartig aus und wurde schon zu Omas Zeiten in den Keller verbannt. Er wurde erst dann wieder heraufgeholt, als ich meine von der Welt völlig isolierte Plattenbauwohnung irgendwie einrichten musste.
Eigentlich ist es gar kein Schrank, sondern ein Schank, der noch der Uroma gehörte. Zu ihrer Zeit war überhaupt alles anders. Das Wohnzimmer wurde auf alte Art und Weise die gute Stube genannt. Diese gute Stube war von verschiedenen Möbeln wie von seltsamen Tieren bevölkert. Und welche wundersame exotische Namen sie hatten! Ebenso wundersam und exotisch wie sie selbst waren. Sie erinnerten mich immer an das Märchen von dem scharlachroten Blümlein, in dem die umsichtige Schwester der lockeren Aljonuschka für ihren Vater eine kristallene Toilette bestellt hatte. Toiletten hatte die Oma natürlich nie gehabt, dafür aber eine Menge von Spiegeln, Kommoden, Kleiderschränken, Schreibschränken und anderen altmodischen Kreaturen.
Mit diesen eichenen Elefanten, Walen und Schildkröten schien die Welt sicheren Bestand zu haben. Im Bauch der Anrichte ruhten gestärkte Tischtücher, silberne Messer mit Elfenbeingriffen, das Osterntafelgeschirr und eine vergoldete Porzellanvase. Im Kleiderschrank lag eine abgenutzte, samtbezogene Schatulle mit Fingerringen und Ohrgehängen der Urgroßmutter (die Oma hatte sie für mich aufgehoben.) Die Welt war stabil und strömte solch einen muffigen Geruch aus, der nur in alten Wohnungen vorkommt und von dem es einem die Kehle zuschnürt.
Nun haben sich die Fingerringe der Uroma schon längst in Kommissionsgeschäften verflüchtigt, zerfallen ist die Schatzinsel, der vorsintflutliche Geschirrschrank, und auch das alte Haus hat bereits das Zeitliche gesegnet... Aber einige der früheren Bewohner haben allerdings überlebt.
Jenes Monstrum, das ich nun geerbt habe, hieß früher zu Uromas Zeiten Garderobe. Aber die Oma nannte ihn schon bescheidener – der Schank, sagte sie mit leichtem Seufzer, immerhin hatte die Zeit auch mit ihr was zu tun gehabt. Und als sie dann mit ihr nichts mehr zu tun hatte, wurde das eichene Gerümpel in den Keller gestellt und ist erst unlängst wieder nach oben gebracht worden. Als dieser Leviathan nun das Tageslicht erblickte, erwachte er zu neuem Leben, spuckte den muffigen unterirdischen Staub aus, schüttelte sich, schwamm weiter und ließ sich in der Ecke meines Zimmers nieder. Und in diesem Augeblick kam die Tür zum Vorschein. Eigentlich war sie schon immer vorhanden, aber solange der Schrank im Keller stand, hatte er vieles hinzugelernt, über vieles nachgedacht, und ich saß nun in einem abgenutzten, aber noch weichen Sessel und unterhielt mich mit der Tür. Diese Gespräche sind ebenso wahnsinnig leicht in mein Leben getreten wie auch du.
Tagsüber kam mir das natürlich selbst sonderbar vor, aber am Abend war wieder alles in Ordnung, ich saß im Sessel, und die Tür begann langsam hin und herzuschwingen und leise zu knarren. Eine gewöhnliche Tür, ein normaler Gesprächspartner.
Diese Tür also traute den schönen und starken Händen nicht. Weiß der Kuckuck warum, aber sie gefielen ihr nicht. Mir gefielen sie aber, und sogar sehr, so dass unser Gespräch nicht in Fluss kam.
„Er ist ein guter Mensch“, wiederholte ich immer wieder zerstreut.
„Nanu?“ wunderte sich die Tür mit spöttischem Unterton. Sie konnte überhaupt nur „na“ und „nu“ oder „ja“ sagen, tat es aber auf solche sonderbare Weise, dass mir auch das schon auf die Nerven ging. Auch dieses „Nanu?“ wies deutlich daraufhin, dass Honig und Zigaretten sowie schöne Hände und sogar der zähflüssige altertümliche Name für sie nicht genügten, um den Worten „Er ist es ein guter Mensch“ zustimmen zu können. Dazu wäre viel mehr nötig. Aber mehr wusste ich von ihm nicht. Eigentlich wusste ich von ihm überhaupt nichts. Hast du das gemeint?
„Na ja“, nickte sie und freute sich über meine Verständigkeit.
Aber ich gab nicht nach. Den Honig- und Zigarettengeruch hatte ich ständig in der Nase, und ich unterordnete mich ihr freudig und ohne zu murren.
„Wenn ich ihn aber liebe?“
„Ja-a-a?“ dehnte sie das Wort zynisch, und ich verstand sofort, was das bedeuten sollte. Das bedeutete... na ja, das bedeutete so manches, was sich auf ferne, aber nicht allzu ferne Zeiten bezog.
Möbel haben ein gutes Gedächtnis.
Bei den Leuten ist es damit etwas schlechter bestellt.
Frauen haben überhaupt ein schlechtes Gedächtnis, deswegen hatte mich diese taktlose Mahnung überrumpelt.
„Das ist was anderes“, sagte ich mit saurer Miene.
„Na ja, na ja“, stimmte sie ulkig zu. Es sei jedes Mal etwas anderes, gestern, vorgestern, dann aber stelle es sich heraus, dass es immer dasselbe ist.
Merkwürdig, dass sie mir gar nichts vorwarf, nicht mal in den Schulmeisterton verfiel, aber in mir stieg trotzdem der Ärger hoch.
„Du zerstörst mir das Leben!“ sagte ich.
„Na, na“, flüsterte sie. Ob sie nun mit mir einverstanden war oder mich nur trösten wollte, war nicht auszumachen.
... „Zu mir?“ – „Nein, lieber zu dir“, sagte ich eilig, auf den Schrank schielend. „In einer halben Stunde.“ So die Vereinbarung.
Ich wusste schon, was sich nachher abspielen würde, und wollte nicht haben, dass sie das sah. Wie dem auch sei, die Ahnen muss man schonen.
Dann saß ich am Tisch und schaute auf dein verschneites Fensterbrett, und die schönen Männerhände nahmen die Kanne aus der Kaffeemaschine und schoben mir eine dampfende Tasse zu. Welch einen kalten, eiskalten Tisch hast du. Aber habe ich das denn nicht gewusst? Alles, was geschehen konnte, war schon geschehen, jetzt und hier. Verdammter Tisch, eine richtige Eisscholle.
... Du holst mir ein Taxi. Nein, du darfst leider nicht mitfahren, man wartet auf mich, nichts zu machen, das ist wichtig.
Aber in der nächsten Woche... du wirst doch frei sein in der nächsten Woche? O ja, in der nächsten Woche und auch mein ganzes Leben lang werde ich frei sein. Von deinen Händen. Von deinem lieben Namen. Von dir.
Die Tasse erbebte in meinen Händen, und das Ungeschick verbrühte mir die Knie. Die Tränen beklemmten mir den Atem.
„Abscheulich, so kalt hier...“
Im Taxi zitterte ich, der Kopf war leer. Ist das meine Adresse? Nun, wenn er das gesagt hat, dann fahren Sie mich auch hin. Hat er nur das gesagt?
Der Taxifahrer sah mich von der Seite an und wandte sich ab. Dann seufzte er und fuhr los. Die Taxifahrer haben zuweilen einen staunenswerten Scharfblick. Fast wie die Türen.
... Die Pullis und Jeans liegen nicht mehr im Schrank, sie liegen auf dem abgenutzten Sessel umher. Darin sitzt schon lange keiner mehr. Auch die Uhr ist stehen geblieben, und der zimperliche Kuckuck strauchelt nicht mehr. Und dort, wo der alte Schrank gestanden hat, schläft in einem hölzernen Gitterbett mein Sohn. Nein, das ist nicht dein Sohn. Er ist viel später zur Welt gekommen und weiß überhaupt nichts weder von den Türen, noch von dem vergossenen Kaffee. Aber wem will ich was vormachen? Er ist auch deiner. Er riecht nach dir und mir, nach Milch und Honig. Und das ist auch das Ende der Geschichte von der Tür.
Übrigens, wer weiß, sie konnte sich auch geirrt haben. Vielleicht werde ich, wenn ich eines kalten Abends durch die Straßen eile, den Geruch von Zigaretten und Honig wahrnehmen und mich umdrehen, und du wirst vor mir stehen mit deinem zähflüssigen alten Namen und den immer noch schönen Fingern. Die Fußgänger und der Wind werden über uns stolpern, und wir werden selbst über uns stolpern und schweigen, wenn wir in den Schneewehen unserer Entfremdung stecken bleiben. Aber da wird irgendjemand aus einem Kaffeehaus treten, das Glöcklein klingen lassen, und der Duft eines heißen starken Kaffees wird uns in die Nasen steigen. Wir werden uns sofort nach dem Geruch umdrehen, ihn genüsslich einatmen, uns einander ansehen und schmunzeln.
Alles vorbei, und nichts wird so wie früher sein, aber warum sollten wir nicht doch einmal Kaffee trinken.
Es schneit...
Ein Stadtbühnenstück oder Der erste Akt eines nicht zu Ende geschriebenen Dramas
Die handelnde Person steht am Fenster. Draußen schneit es. Die Person existiert in Wirklichkeit gar nicht. Sie ist erfunden. Von Anfang bis Ende. Aber dass diese Person nicht vom Fenster wegzubringen ist, ist die reinste Wahrheit. Wahr ist allerdings auch, dass es völlig unverständlich ist, welches unvergessliche Bild den Blick der erfundenen Person gefesselt hat. Die erfundene Person ist natürlich eine Frau.
Ach, diese Frauen! Sie verstehen es, sich an einer glatten Oberfläche zu halten, an welcher sich sonst nur Fliegen oder, pardon, Küchenschaben halten können. Manchmal sind sie auch den Katzen ähnlich: sie fallen ebenso meisterhaft auf ihre Pfoten und verkriechen sich vor einem Gegenangriff.
Außerdem können die Frauen zuweilen zart und schmachtend piepsen und damit etwas Weißes, Weiches und Flaumiges vortäuschen. Sie können auch, wenn es darauf ankommt, das Gleichgewicht verlieren und sogar – komme, was da wolle! – leicht und zielsicher, um keine blauen Flecken zu verursachen, auf den Boden oder manchmal auch direkt ins Bett fallen. Im schlimmsten Falle spielen sie Verzweiflung, Eifersucht und völlige Unglückseligkeit vor und stürzen in leichten Strumpfhosen aus dem Haus in den Schnee. Und dann hören sie triumphierend zu, wie ihr Beleidiger mit nervösen Schritten ihr nachläuft und verärgert und verzweifelt schreit: „Zieh die Stiefel an, du Idiotin, du erkältest dich noch...“
Ach, Frauen, ihr, Frauen!
Das erwähnte Bühnenstück hat zwei handelnde Personen: Er und Sie.
Sie...
Sie ist SIE. Wo sie ist, mit wem sie ist und warum - auf diese Fragen gibt es keine Antwort. Aber in diesem Augenblick schaut sie auf die Stadt und sieht dem Schneefall zu.
Er...
Er ist ein untersetzter Brünette mit einer Brille. Seine Großmutter war Türkin. Daher offenbar das dunkelschwarze Haar und die orientalischen schmalgeschnittenen Augen. Er ist Philologe, arbeitet an einer Dissertation. Das Thema ist hochinteressant: „Medizinische Fachausdrücke in der russischen Sprache der Gegenwart„. Der Vater des Dunkelhaarigen ist Mediziner. Ein Professor. Eine verdienstvolle Persönlichkeit, verehrt fast im ganzen Lande. Also dürfte alles klar sein... Aber ein Durchschnittswissenschaftler ist der Brünette nicht, es fehlt ihm der Bart dazu und Er hat eine sehr zarte Gesichtshaut. Ach was, was hätte sich dabei geändert?
Er spricht gern über intellektuelle Themen. Besonders, wenn Er in der kleinen Küche Tee trinkt oder Suppe isst. Danach wird Schach gespielt. Das Schachspiel ist sein Hobby. Und das Spiel wird jedes Mal in der Mitte abgebrochen. In eine warme Wolljacke vermummt, lauscht sie seinem Philosophieren über die Gleichberechtigung der Frau. Und über Dinge, die zwischen Mann und Frau geschehen, von denen sie nie etwas erfahren wird.
Übrigens... Weiß eigentlich dieser, mit einer ungeliebten Frau und zwei Kindern belastete Grünschnabel, was eine Frau ist?
Wie immer blickt Er mit einemmal ängstlich auf die Uhr, küsst ihr verstohlen Wangen und Lippen, eine zurückhaltende Leidenschaft vorspielend, und geht weg. Sie versucht es auch gar nicht, ihn zurückzuhalten. Übrigens hatte es irgendwann früher eine Leidenschaft gegeben...
Er...
Er ist hochgewachsen und sieht einem Zigeuner ähnlich. Schwarzhaarig, schwarzäugig, elegant. Hat immer einen weißen Mantel an. Ein Ästhet. Alles macht Er geschmackvoll. Er schreibt Erzählungen, die von den Redaktionen der Zeitungen und Zeitschriften sofort gedruckt werden. Er trinkt Wodka ohne Imbiss und ohne betrunken zu werden. Verliebt sich in Frauen. Kann gut schwimmen. Spielt Tennis. Kocht gut.
In die Küche ist ihm der Zutritt verboten. Im Gästezimmer erscheinen auf dem kleinen Couchtisch in dünnen Porzellantassen dampfender Kaffee, winzige Häppchen, Oliven in einer Kristallschale, weiße Schokolade, die der Philologe jedes Mal mitbringt. Mit ihm spielt Sie Dame. Allmählich geht das Gespräch über allerlei Angelegenheiten, seine Angelegenheiten natürlich, selbstverständlich zu Büchern oder einer jüngsten Theaterinszenierung irgendeines Regisseurs über, mit dem der Ästhet irgendwann in verschiedenen Kneipen und bei verschiedenen Mädchen die Zeit verbracht hat. Sie schaltet den Kassettenrekorder ein. An der Decke tanzen Schatten, auf dem Teppich Menschen. Es tönt die von den jüngeren Leuten schon längst vergessene Stimme des Salvatore Adamo. Er singt in einer Sprache, die für die Liebe geradezu geschaffen zu sein scheint – in der französischen, die sie einst in der Schule und dann auf der Universität gelernt hat. Sie kann deswegen mitsingen. Adamo singt das Lied, das sie ihre Hymne und auch ihr Wiegenlied nennt: „Langsamer Schneefall... Du fährst weg in der Kutsche in die schneeigen Weiten... Du verschwindest... Zusammen mit dir verschwindet die Liebe, die Hoffnung, das Glück... Langsamer Schneefall...“
Der ihr immer fremd erscheinende Ästhet wird mit einemmal furchtbar nett. Er hat endlich aufgehört zu reden. Übrigens hat Sie das gar nicht gemerkt. Er bringt jedes Mal verlassene Schlösser mit, bezaubernde Geschichten, Nebel, Rätsel. Ein Wort – und schon ist die GANZE WELT da, Kristall und Silber, seltsame Blumen im Morgentau, ferne Sterne, wundersame und ergreifende Lieder. Aber Sie schweigt. Und auch die Musik ist zu Ende... Er geht, ehe Er ihr hätte zur Last fallen können.
Er...
Er ist hager, sportlich, nicht mehr jung. Er hat nicht nur eine Frau, sondern auch zwei erwachsene Töchter und sogar eine Enkelin. Ein Bergsteiger. Sein Leben sind die Berge. Alles andere ist für ihn nebensächlich. Manchmal will ihr scheinen, dass Er alles andere auch gar nicht wahrnimmt. Den Salvatore Adamo hat Er ihr geschenkt. Er spielt selbstverständlich Gitarre und singt mit einer angenehm heiseren Stimme. Zusammen mit Ihm hat sie alle Bardenlieder erlernt. Zusammen mit Ihm hat sie, auf ihn wartend, alle Höhen der Welt erstürmt. Sie hat schon Angst gehabt, dass sie Ihn nie mehr sehen würde. Sein bester Freund ist unter einer Schneelawine begraben worden...
Alle Wände ihrer Wohnung sind mit seinen Fotos behängt: Afrika, Alpen, Ural, Sibirien, Ferner Osten, Sahara, Ägypten... Er hat viel gesehen. Ist viel gereist.
Wie heißt es doch so schön: Wer viel gesehen hat, der weint selten. Er ist trocken und schroff. Aber in seltenen Minuten ist seine Zärtlichkeit mit keiner anderen in der Welt zu vergleichen. Und diese beginnt jedes Mal mit den Worten „Meine Grünäugige, meine Schöne...“
Er duftet nach Steppe, Sonne und Wind.
Er geht immer um neun Uhr abends. Nach Hause. Zur Frau, zu den Töchtern und der Enkelin. Da ist nichts zu machen. Vielleicht ist es auch besser so.
Er...
Er ist launisch und sehr eingebildet. Ist ja auch verständlich bei seiner Stellung. Zwei Hochschulbildungen, nachher die Militärakademie, drei Fremdsprachen beherrscht Er perfekt. Sie zweifelt nicht im geringsten, dass Er es weit bringen wird. Aber Er zweifelt auch selbst nicht daran. Eine Frau hat Er, zwei bezaubernde Töchter. Alles begann bei einer Dienstreise, sie kann sich gar nicht mehr erinnern, wie es begonnen hat. Und sie weiß auch nicht, warum es bis jetzt noch fortwährt. Und trotzdem erscheint Er regelmäßig in ihrer Wohnung mit einem Blumenstrauß und teurem Champagnerwein. Immer ernst, wichtig und erfolgssicher.
Er...
Ein dauernd jammernder Pechvogel, den die Frau verlassen hat. Immer in zerrissenen Socken. Immer beschwert Er sich, dass ihn jemand in seinen besten Erwartungen übers Ohr gehauen hat: mal sein Vorgesetzter, mal der Installateur für sanitäre Anlagen oder der Postbote und sogar seine zwölfjährige Tochter, die ihn für einen muffigen Menschen hält.
Sie gibt ihm etwas zu essen. Er versucht, ein ungezwungenes Gespräch mit ihr anzuknüpfen, während sie mit dem Staubsauger den Teppich reinigt und mit dem Mülleimer an ihm vorbeigeht. Nach der dritten Tasse Tee schmeißt sie ihn raus.
Nach einigen Tagen ist Er wieder bei ihr...
Den Sechsten gibt es nicht. Obwohl Er ihr ab und zu einen Besuch abstattet. Er hat helles Haar, blaue Augen, feine Gesichtszüge. Er ist Regisseur, Drehbuchautor, Künstler. Im besten Sinne dieses Wortes. Ein Herzensbrecher. Was verständlich sein dürfte. Er hat immer warme Hände. Er riecht nach Gras und Honig. Er ist ihr unendlich lieb und teuer, wie ein beliebiges erdachtes Wesen. Sie möchte Ihn immer wieder sehen, um daran zu glauben, das Er wirklich da ist. Ihre Umarmungen und Liebkosungen sind wie ein Traum sowie auch alles andere, was damit verbunden ist. Wenn hinter ihm die Tür ins Schloss fällt, schaut Sie lange dem Weggehenden nach und versucht an seine Realität, an seine Existenz zu glauben.
Der siebente Er ist der Mann ihrer Freundin. Zunächst übrigens ihr Universitätsfreund und dann erst der Mann ihrer Freundin. Daran haben alle schon längst gewöhnt. Er ist tugendhaft und sparsam wie jeder fremde Mann.
Der achte Er...
Darüber lohnt es sich gar nicht zu reden.
... Sie schaut auf die Stadt. Langsamer Schneefall... Hinter dem Fenster ziehen im frühen Dämmerlicht Menschentrauben vorbei. Irgendwo in der Menge geht auch Er.
Sie wartet auf Ihn schon mehrere Abende.
Wartet auf Sein Klingeln.
Die Fensterscheiben laufen an von ihrem nahen Hauch. Sie schreibt mit dem Finger darauf: „Ich liebe dich“. Sie weiß, das es gar nicht stimmt. Sie weiß, was hinter diesen Buchstaben steckt.
Es wird dunkler. Die Stadt ist nicht mehr zu sehen. Man sieht nur noch den im Lichtkegel der Straßenlampe flimmernden Schnee.
Dann ist es stockdunkel.
Es klingelt...
Aus dem Russischen V. Heinz